Seit einigen Jahren begleite ich Teams und Führungskräfte als agiler Coach. Agilität ist aus meiner Sicht ein „verhaltenstherapeutischer“ Ansatz für Unternehmen, der als kostengünstige rezeptfreie Medikation massenweise eingesetzt wird. Warum verhaltenstherapeutisch? Die Verhaltenstherapie geht davon aus, dass jedes Verhalten erlernt und somit „konditioniert“ wird. Dies gilt auch für „unerwünschtes“ Verhalten, das durch die Verwendung von Verhaltens- und Lernprinzipien ebenso verändert werden kann. Genau das wird aus meiner Sicht mit der Einführung von agilen Frameworks bezweckt: Durch Einsatz bestimmter Verhaltensregeln und „Rituale“ werden Gruppen von Menschen konditioniert, bestimmte Prinzipien – Crossfunktionalität, Transparenz, Feedback, Time boxed, Iteration, Adoption und Selbstorganisation – in ihrem Arbeitsalltag umzusetzen und so ihre Haltung bzw. ihr „Mind-Set“ zu ändern.
Diesen Konditionierungsversuch spüren Menschen und, laut einer befreundeten Beraterin, „empfinden sie Agilität „nur“ als ein neues Tool, eine neue Methode, die dafür benutzt wird, um das Unternehmen schneller, besser, windschnittiger, wettbewerbsfähiger zu machen. Allerdings wird Agilität häufig nicht mit den Menschen, sondern ohne sie eingeführt: Das Neue wird gegen Vorbehalte übergestülpt und der, der es nicht mag und nicht nutzt, ist außen vor.
Hinzu kommt, dass Führungskräfte agile Arbeitsmethoden nicht richtig verstehen und einsetzten (wollen). Manche nutzen diese unter einem neumodischen Deckmäntelchen als Kontrollinstrument oder um die Offenheit fürs Neu vorzumachen. Denn viele sehen darin keinen Nutzen für sich, sondern eher Gefahr: "Was wird aus meiner Rolle, wenn sich mein Team selbst organisiert. Werde ich dann überflüssig?" So wird wieder nur ein neues Pferd vor den alten Karren gespannt. Leider haben Reiter und Pferd aber kein gemeinsames Verständnis, welchen Weg sie gemeinsam einschlagen wollen. Daher braucht die Agilität (Selbst)-Führung.
Ein kleiner Praxis-Beispiel: Ein selbst-organisiertes Scrum-Master Netzwerk entscheidet, gemeinsam eine große Veranstaltung auf die Beine zu stellen. Am Anfang ist jeder begeistert, jeder hat schon mal ein Event organisiert und weiß, wie es geht. Die Koordination und Moderation des Netzwerks wird von Termin zu Termin von einem anderen Scrum-Master übernommen. Nach ein paar Monaten und mehreren Treffen wird immer noch konzipiert. Die Spannung steigt, die Lust sinkt, die Umsetzung wird verschoben. Die Stimmen: „Jemand muss die Gesamtverantwortung für das Event tragen und die Fäden in der Hand halten“ werden lauter. Die Veranstaltung findet am Ende auf den letzten Drücker statt, das Scrum-Master-Netzwerk zerfällt – die Erfahrung ist frustrierend.
Mein Fazit: Die Selbstorganisation braucht Führung – Fremd- und/oder Selbstführung. Gerade aber die Selbstführung ist eine hohe Kunst. Sie braucht innere Klarheit, Selbstvertrauen, Selbstdisziplin und emotionale Stabilität. Wer sich selbst führen kann, kann auch andere Menschen führen. Das sind Qualitäten, die nicht über Nacht entstehen. Sie bedürfen Entwicklung, Pflege und vor allem Bereitschaft und Beharrlichkeit. Es ist naiv bis fahrlässig zu glauben, dass die agilen Methoden dies „von allein“ regeln.
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